Ein Traumbilderbuch Dieser erste umfassende Katalog über das Werk des 1964 in Beijing geborenen chinesischen Malers Liu Ye spiegelt ganz aktuell dessen Schaffen eines Vierteljahrhunderts, nämlich von 1991-2015. Man kann Liu durchaus einen Shooting Star der Kunstszene nennen, wen man sich vor Augen hält, daß seine Bilder bereits bei Kleinformaten sechsstellige Dollar-Summen erzielen und daß das 180 x 360 große Bild „Sword“ (2001-2002, Acryl auf Leinen), mit dem der Schutzumschlag des Katalogs geschmückt wurde, bei Sotheby´s auf 3 Millionen US-Dollar geschätzt wird.
Liu ist ein unerhört witziger Maler, der seine Einflüsse nicht nur nicht versteckt, sondern plakativ herausstellt, beginnend mit europäischen Märchenbüchern u.a. von H.C. Andersen und den Brüdern Grimm, die er aus seiner Jugend durch den Vater kennt, der selber Kinderbuchillustrator
Subtil erotische Cartoons sind ein weiteres starkes Element, Liu spielt mit der nur scheinbar zierlichen Unschuld und der wie zufälligen so doch provokativen Nacktheit sehr junger, zierlicher Frauen. Der drohende/strafende Rohrstock der Lehrerin in „A view of my teacher's back“ (2004) kehrt wie ihre erträumte Vorderseite („Yellow“) in explizit erotischem Zusammenhang häufig wieder auf. Lius Bilder reichen auch weit in die kollektive chinesische Erinnerung an die Propaganda der Kulturrevolution, die Zeit seiner Kindheit, zurück. Militaristische Träume mit Kampfhandlungen und seinem Kindheitswunsch, ein Marine-Soldat zu sein, nehmen in etlichen Variationen erstaunlich viel Raum ein: „Lost Balance“, „Silence of the Sea“, „War Children“. Engelschöre erinnern wiederholt an die sicher oft gehörten Armeechöre von Lius Kindheit. Ein Romeo, der sich erschossen hat, erscheint an anderer Stelle als über einem Buch eingeschlafener Knabe wieder. Liu steckt voller Überraschungen. Seine Porträts bekannter Köpfe („Chet Baker“, „Mozart“, „Eileen Chang“) treffen ganz dicht an der Karikatur den Kern und haben neben sicherem Blick für Charakter oft auch Humor - Papst Johannes Paul II. mit einem Schweinchen auf dem Schoß ist jedenfalls köstlich.
Das Studium der Bilder Lius im opulenten „Catalogue Raisonné 1991-2015“ ist wie ein großes vergnügliches Rebus mit der Suche nach Impulsen und Vorlagen, Träumen vom Fliegen und Lüsten – ein Traumbilderbuch mit kleinen Fehlern, denn die Zuordnung von Märchenmotiven und die Schreibweise „H.C. Anderson“ zeigt gelegentlich gewisse Unsicherheiten. Das Vergnügen an seinen Bildern bleibt davon aber völlig unberührt.
Studiert hat Liu Ye in Beijing (School of Arts & Crafts / Central Academy of Fine Arts), Berlin (Universität der Künste) und Amsterdam, wo er an der Rijksakademie 1998 Artist in Residence wurde. Heute lebt er überwiegend in Beijing.
Liu Ye – „Catalogue Raisonné 1991-2015“
Edited by Christoph Noe, Texts by Paul Moorhouse, Phil Tinari, Zhu Zhu, graphic design by Marc Naroska
© 2015 Hatje Cantz, 398 Seiten, Leinen mit Schutzumschlag, 438 farbige Illustrationen, 27,4 x 30,8 cm, Text: Englisch, Chinesisch - ISBN 978-3-7757-3922-1
58,- €
Weitere Informationen: www.hatjecantz.de
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